Zecke

Ich habe eine Zecke. ICH HABE EINE ZECKE. Natürlich stelle ich es des Nachts fest, das ganze Haus schläft. Ich entdecke einen schwarzen knubbeligen Punkt an der Verlängerung des Rückens.  Zu sehen nur, wenn ich mich vor dem Ganzkörperspiegel drehe und wende, mit beiden Händen die Betroffene Haut etwas ins Blickfeld zerre. Stelle fest, dass ich doch einmal wieder die Gymnastikkurse der Volkshochschule besuchen sollte. Schnell ist die Zeckenzange gefunden und nun darf ich mir eingestehen, dass die Auge-Handkoordination im Verdrehtrückwärtsvormspiegelhängen noch ausbaufähig ist. Treffsicher zwicke ich mir in den Rücken. Mehrmals. Die Zecke lacht. Als ich den Schwindel nicht mehr ignorieren kann, welcher eintritt, weil der Kopf kein Blut mehr abbekam, da ich um 180 Grad den Hals verdrehe, beschließe ich aufzugeben. Ich gehe ins Bett, die Zecke ist morgen auch noch da.

Genau. Vielleicht aber auch nicht.

Ich spüre nur das Krabbelding, welches mir gerade sämtliche Borreliosebosheiten in den Rücken kotzt. Und dann liegt da mein unschuldiger Jüngster, neben mir, kuschelt herüber. Was, wenn jetzt das Monster beschliesst, lieber süsses Bubenblut als altes, unbewegliches Altfrauenfleisch zu verzehren??? Ich muß meine mir anverwandte Brut retten.

Ich springe wieder auf. Vielleicht hat die kurze Ruhephase meine Elastizität gesteigert?! Nein.

Hilflos blicke ich um mich. Ergreife das Händy. Nur eine Person, welche zu dieser Nachtzeit noch wach sein könnte, Schweißperlen und Herzrasen, ich habe nur einen Versuch: Bist du wach? Ja. Kommt sofort die Antwort der mittlerweilen volljährigen Nachbarstochter. ICH HABE EINE ZECKE. Operier mich bitte!

Sie glaubt, ich wäre betrunken.

Trotzdem darf ich hinüber kommen, aber mit der Bitte, gaaaanz leise zu sein, weil sie sonst Ärger bekommt. Ärger, wo sie doch ihrer Nachbarin das Leben rettet?

Mittlerweile hat es wie immer Ende April heftig geschneit. Ich mache mich gaaanz leise auf den Weg über die Strasse. Das Nachbarskind hat die Tür schon offen, damit ich ja nicht klingele. Leise versuche ich über den Schnee zu laufen. Knirsch knirsch knirsch. Jeder Schritt explodiert in der nächtlichschweigenden Strasse. Das Nachbarskind klammert sich Gelächterunterdrückend am Türrahmen fest. Ja, ich kann auch leise.

In ihrer Küche angekommen begutachtet sie meine Rückseite: Steffi, da ist keine Zecke. Das ist nur rot. Blutig rot. Nun gut, meine Treffsicherheit mit der Zange war nicht allzu gut. Dennoch. Wo war das Monster? Hatte ich es verloren? Oder war diese nun nicht mehr angehende Ärztin blind? Erkannte sie den Ernst der Lage nicht?

Sie macht ein Foto. Stimmt. Nur ein roter Fleck. Von bissiger Zecke keine Spur.

Wir kriechen am Boden entlang, untersuchen jeden schwarzen Fussel nach möglicherweise abgefallener Zecke, bis mich meine Nachbarstochter rauswirft.

KNIRSCH KNIRSCH KNIRSCH schleiche ich leise zurück nach Hause. Zerknirscht betrachte ich meine Rückseite im Spiegel. Ha. Ein schwarzer Zeckenfleck.

Oder halt einfach doch nur sehr schlechte Beleuchtung.

Ich schlüpfe ins Bett, schiebe den unschuldig schlummernden Jüngsten zur Seite. Der gar nicht weiß, welcher Gefahr er gerade noch mal entronnen war.